Einleitung
Der Jubel war groß nach der lang erwarteten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Verfahren Verein KlimaSeniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland (Urteil vom 09.04.2024 - 53600/20).[1] Der EGMR hat zum ersten Mal positiv über eine Klimaklage entschieden und die Schweiz wegen unzureichender Klimaschutzmaßnahmen verurteilt. Der Klimawandel sei „eines der drängendsten Probleme unserer Zeit“[2] und stelle laut dem Gericht eine Gefahr für die Menschenrechte dar. Zwei Kernpunkte der Entscheidung sowie deren Auswirkungen im nationalen Recht sollen im Folgenden vorgestellt werden.
Inhalt der Entscheidung
Zunächst zur Fallkonstellation: Geklagt hatten der „Verein KlimaSeniorinnen“, ein Zusammenschluss älterer Frauen aus der Schweiz, die sich für mehr Klimaschutzmaßnahmen einsetzen, sowie vier ältere Frauen, die dem Verein angehören. Gestützt wurden die Klagen unter anderem auf das hohe Lebensalter der Klägerinnen: Diese seien aufgrund ihres Alters besonders von den Auswirkungen des Klimawandels (z.B. Hitzewellen) betroffen, was ihre Gesundheit und ihre Lebensbedingungen erheblich beeinträchtige. Der EGMR stellte zwei Konventionsverstöße fest: eine Verletzung von Art. 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).
1. Die wichtigste Aussage des Urteils ist ohne Zweifel, dass das Recht auf Privat- und Familienleben (Art. 8 EMRK) ein Recht des Einzelnen auf wirksamen Schutz vor schwerwiegenden Auswirkungen des Klimawandels auf Leben, Gesundheit, Wohlergehen und Lebensqualität umfasst.[3] Umgekehrt folgt daraus eine staatliche Schutzpflicht zur Eindämmung des Klimawandels. Der EGMR hat Art. 8 EMRK mit der Zeit nicht unerheblich ausgeweitet und die Vorschrift in das Zentrum seiner Rechtsprechung zu Umweltsachen gestellt.[4] Die Vorschrift gewährt zwar kein Recht auf eine saubere und ruhige Umwelt, kein Recht auf Naturschutz oder Erhaltung der Natur[5], allerdings können Umweltbeeinträchtigungen von einem gewissen Gewicht das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens beeinträchtigen. Der Begriff des Privatlebens wird dabei umfassend verstanden und beinhaltet auch die körperliche und psychische Integrität und Lebensqualität, etwa durch den Schutz vor Umweltbelastungen wie Abgasen, Lärm oder anderen Immissionen.[6] An diese inzwischen umfangreiche Rechtsprechung knüpft die Große Kammer beim aktuellen Fall an und erweitert sie: die Vertragsstaaten haben die Pflicht, Maßnahmen zum Schutz vor den Gefahren des Klimawandels zu treffen. Aus Art. 8 EMRK folgt somit, dass die Vertragsstaaten Maßnahmen ergreifen müssen zur „erheblichen und schrittweisen Reduzierung ihrer Treibhausgasemissionen, um Treibhausgasneutralität grundsätzlich innerhalb der nächsten drei Jahrzehnte zu erreichen.“[7]
Wichtig ist dabei, dass der Gerichtshof beim Ermessensspielraum, den er den Staaten zubilligt, differenziert: Auf der einen Seite steht das „Bekenntnis des Staates zur Notwendigkeit der Bekämpfung des Klimawandels […] und die Festlegung der in dieser Hinsicht erforderlichen Ziele“ (das „Ob“) und auf der anderen Seite die „Wahl der Mittel zur Erreichung dieser Ziele“ (das „Wie“). Hinsichtlich des Bekenntnisses zur Bekämpfung des Klimawandels haben die Vertragsstaaten im Hinblick auf „Art und Schwere der Bedrohung“ einen „reduzierten“ Ermessensspielraum, bei der Wahl der Mittel ist der Ermessensspielraum hingegen „weit“.[8] Der Gerichtshof hat sich eingehend mit den Klimaschutzmaßnahmen der Schweiz befasst und „kritische Lücken“[9] festgestellt, etwa das Versäumnis, die nationalen Grenzen für Treibhausgasemissionen durch ein Kohlenstoffbudget oder auf andere Weise zu quantifizieren. Darüber hinaus hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Schweiz ihre Ziele zur Verringerung der Treibhausgasemissionen in der Vergangenheit nicht erreicht hat. Indem die Schweiz nicht rechtzeitig und konsequent genug Maßnahmen zum Klimaschutz erarbeitet und umgesetzt hat, überschreitet sie ihren Ermessensspielraum und verletzt Art. 8 EMRK.
2. Der zweite Kernpunkt der Entscheidung betrifft die Stellung der Umweltverbände hinsichtlich ihrer Opfereigenschaft (Beschwerdebefugnis) nach Art. 34 EMRK. Geklagt hatten der Verein KlimaSeniorinnen selbst sowie vier seiner Mitglieder. Hinsichtlich der einzelnen Antragsteller hält der Gerichtshof an den strengen Voraussetzungen seiner früheren Rechtsprechung in Bezug auf die Beschwerdebefugnis fest. Der Gerichtshof hat im Urteil betont, dass die Hürden für diese Voraussetzungen (im Hinblick auf den Ausschluss von Popularklagen) sehr hoch sind und im vorliegenden Fall waren sie nicht erfüllt.
Bei der Beschwerdebefugnis des Vereins legt der Gerichtshof eine erstaunliche Wende hin: Unter recht niedrigen Voraussetzungen und in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung wurde die Individualbeschwerde des Vereins zugelassen.[10] Besonders hervorzuheben ist die Neuerung, dass eine Vereinigung nicht nachweisen muss, dass die Einzelpersonen, die sie repräsentiert, selbst die Anforderungen an die Beschwerdebefugnis erfüllt haben.[11]
Dadurch entsteht eine merkwürdige Konstruktion: Während der Gerichtshof die einzelnen Klägerinnen nicht hinreichend in ihren Rechten verletzt sieht, gibt er der Beschwerde des von ihnen mitgetragenen Vereins statt. Die einzelnen natürlichen Personen, die (aufgrund der hohen für sie geltenden Voraussetzungen) nicht klagen können, überwinden somit die Beschwerdebefugnis durch die Mitgliedschaft in einer Vereinigung.[12] Diese auf den ersten Blick fragwürdige Konstruktion lässt sich dadurch erklären, dass der EGMR keine Popularklagen zulassen will, aber dennoch die Möglichkeit für Klagen betreffend die Verletzung von Menschenrechten durch den Klimawandel offenlassen will. Diese Möglichkeit besteht aber nicht, wenn Vereinigungen die Betroffenheit ihrer Mitglieder nachweisen müssen. Der Gerichtshof hat drei einschränkende Kriterien für die Beschwerdebefugnis von Vereinigungen aufgestellt, die im Wesentlichen auf den Zweck und die Repräsentativität der Vereinigung beziehen, insbesondere dass die Vereinigung sich besonders für von Klimawandel bedrohte Menschenrechte einsetzt.
Der Gerichtshof hat damit die Rolle von Umweltverbänden im Kampf gegen den Klimawandel wesentlich gestärkt. Im vorliegenden Fall hatten die schweizerischen Gerichte die Klagen des Umweltverbands nicht hinreichend geprüft, da sie nur die erhobenen Klagen der Einzelpersonen geprüft und dabei die Klagebefugnis des Umweltverbands offengelassen haben. Das reicht nach Ansicht des EGMR nicht aus, weswegen er eine Verletzung von Art. 6 EMRK in Bezug auf den Verein KlimaSeniorinnen bejaht.
3. Die Feststellungen des Gerichtshofs sind bahnbrechend und werden über den Fall hinaus Auswirkungen zeigen. Das Urteil bindet zwar nur die Schweiz direkt (Art. 46 EMRK), seine indirekten Auswirkungen dürfen aber nicht zu gering eingeschätzt werden.
Das Urteil wird die Auslegung der einschlägigen nationalen Menschenrechte in den EMRK-Vertragsstaaten beeinflussen, etwa in Österreich, wo die EMRK Verfassungsrang besitzt. In Deutschland hat die EMRK zwar nur den Rang eines einfachen Gesetzes, ihr kommt aber aufgrund des Grundsatzes der völkerrechtsfreundlichen Auslegung ein höheres Gewicht und damit eine Stellung zwischen einfachem Gesetz und Verfassung zu. In diesem Rahmen hat das Bundesverfassungsgericht ein Gebot zur Heranziehung der EMRK (einschließlich der Rechtsprechung des EGMR) als Auslegungshilfe für die Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes aufgestellt.[13] Von der Entscheidung des EGMR geht somit zumindest eine indirekte Wirkung auf die deutschen Grundrechte aus.
Auch die Rolle von Umweltverbänden im nationalen Recht wurde durch das Urteil entscheidend gestärkt. Angesichts der Komplexität des Klimawandels und der Problematik, den vom Klimawandel betroffenen Menschen ausreichend gerichtlichen Schutz einzuräumen, sieht der EGMR in Umweltverbänden aufgrund ihrer Repräsentativität eine entscheidende Möglichkeit zum Umgang mit dem Klimawandel auf rechtlicher Ebene und scheint verstärkt prüfen zu wollen, ob die Vertragsstaaten den Umweltverbänden in ihrem nationalen Recht eine ähnlich wichtige Rolle zuweisen, wie es der Gerichtshof in seinem Urteil getan hat.[14]
Fazit: ein wegweisendes Urteil?
Der Jubel über das Urteil war groß, nicht nur unter den Klimaseniorinnen. Zurecht kann dieses Urteil als historisch bezeichnet werden. Der Gerichtshof entwickelt seine bisherige Rechtsprechung zu Umweltsachen im Lichte der Klimakrise weiter. Klimaklagen bewegen sich stets im Spannungsfeld zwischen effektivem Schutz der Menschenrechte vor den Auswirkungen des Klimawandels und einem dem Vorwurf des Übergriffs auf die Gewaltenteilung. Der Gerichtshof schafft es, die betroffenen Aspekte überzeugend in Ausgleich zu bringen: einerseits starke Betonung der Rolle der Gerichte beim Klimaschutz, Wahrung staatlicher Souveränität durch Einräumung von Ermessensspielräumen andererseits. Sechs weitere Klimaklagen sind vor dem EGMR anhängig, darunter auch eine gegen Deutschland erhobene Beschwerde. Nicht nur diesen Klagen wird das Urteil Aufwind geben.
[1] Der EGMR urteilte am 09.04.2024 insgesamt über drei Klimaklagen. Allerdings hatte nur die Klägerinnen im Verfahren Verein KlimaSeniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland Erfolg, während die beiden anderen Klagen (Carême v. France – 7189/21 und Duarte Agostinho and Others v. Portugal and 32 Others - 9371/20) als unzulässig abgewiesen wurden.
[2] EGMR, Urt. v. 09.04.24 – 53600/20 - Verein KlimaSeniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland, Rn. 410.
[3] Ebd., Rn. 519.
[4] Vgl. Meyer-Ladewig, NVwZ 2007, 25 (26 f.).
[5] EGMR, Urt. v. 9. 6. 2005 - 55723/00 Nr. 68 - Fedayeva/Russland.
[6] Karpenstein/Meyer/Pätzold, EMRK, 3. Aufl. 2022, Art. 8 Rn. 38.
[7] EGMR, Urt. v. 09.04.24 – 53600/20 - Verein KlimaSeniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland, Rn. 548.
[8] Ebd., Rn. 543.
[9] Ebd., Rn. 573.
[10] Abel, Gemischte Signale für das nationale Klimarecht: Die Klimaentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, VerfBlog,2024/4/19, https://verfassungsblog.de/gemischte-signale-fur-das-nationale-klimarecht/.
[11] Arntz/Krommendijk, Historic and Unprecedented: Climate Justice in Strasbourg, VerfBlog, 2024/4/09, https://verfassungsblog.de/historic-and-unprecedented/.
[12] Wegener, Globuli für Umweltjuristen: Gedanken zur Klimaklagen-Bewegung anlässlich des Klimaseniorinnen-Urteils des EGMR, VerfBlog,2024/4/11, https://verfassungsblog.de/globuli-fur-umweltjuristen/.
[13] BVerfGE 111, 311 (317).
[14] Abel, Gemischte Signale für das nationale Klimarecht: Die Klimaentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, VerfBlog,2024/4/19, https://verfassungsblog.de/gemischte-signale-fur-das-nationale-klimarecht/.
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