„Wie schaffen wir einen effektiven Umweltschutz? Wie integrieren wir den Naturschutz in unsere sozialen, technischen und ökonomischen Infrastrukturen? Wie kann man erreichen, dass Interessen unserer Natur in der Abwägung gesellschaftlicher Belange Berücksichtigung finden?“. Mit diesen nicht einfach zu beantwortenden Fragen hatten wir den letzten Vortrag unserer Veranstaltungsreihe im Sommersemester 2022 beworben. Am Ende des Vortrags von Herr Prof. Kersten sind wir nicht nur der Beantwortung dieser Fragen spürbar nähergekommen. Vielmehr haben wir auch eine Vorstellung davon gewinnen können, wie eine Verfassung aussehen könnte, die einen Beitrag zu einem effektiven Klimaschutz leistet.
Doch der Reihe nach: bevor Herr Prof. Kersten näher auf die „Klima-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG vom 24.03.2021, NVwZ 2021, 951), dessen Folgen und mögliche Anknüpfungspunkte für eine Verfassungsreform einging, musste zunächst die Ausgangslage geklärt werden. Zwar beinhaltet Art. 20a GG seit 1994 eine Staatszielbestimmung, wonach der Staat für die künftigen Generationen die „natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere“ schützen soll. Allerdings war diese Staatszielbestimmung innerhalb der letzten 30 Jahre von geringer Bedeutung, da sie keine subjektiven Rechte verleiht, sondern lediglich einen „objektiv-rechtlichen“ Schutz gewährleistet. Erst subjektive Rechte ermöglichen es jedoch dem Einzelnen, vom Staat ein Tun oder Unterlassen zu verlangen und dadurch die Rechtsordnung im eigenen oder fremden Interesse in Bewegung zu setzen.
Auch wenn die „Klima-Entscheidung“ des BVerfG vom 24. März 2021 – dessen Lektüre laut Herrn Prof. Kersten ziemlich genau eine ICE-Fahrt von München nach Hamburg dauert – hieran nichts zu ändern vermag, treibt die Entscheidung jedoch eine gewisse „Versubjektivierung“ des Art. 20a GG voran, indem das BVerfG die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG mit der allgemeinen Handlungsfreiheit kombiniert. Gegenstand der Entscheidung war die alte Fassung des Klimaschutzgesetzes, dessen (laschen) Regelungen nach Ansicht des BVerfG gravierende Einschränkung künftiger Generationen zur Folge hätten. Folglich hat das BVerfG Teile des Klimaschutzgesetzes für verfassungswidrig erklärt. Hierfür entwickelte das BVerfG eine „intertemporale Freiheitssicherung“, was laut Herr Prof. Kersten zu einer Dynamisierung der Grundrechtsordnung führt.
Damit leistet die Entscheidung des BVerfG einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz. Trotzdem kann darüber gestritten werden, ob dieser Beitrag ausreichend ist – schließlich entfaltet die Entscheidung keine subjektiven ökologischen Rechte, begründet kein ökologisches Existenzminimum, entfaltet keine Rechte künftiger Generationen und erst recht keine Rechte der Natur.
Doch welche alternativen Handlungsmöglichkeiten bestehen, um einen noch effektiveren Schutz des Klimas zu ermöglichen? Zur Beantwortung dieser Frage erklärte Herr Prof. Kersten uns, dass sich unsere Gesellschaft von einer Risikogesellschaft, welche durch Risikoprävention und die Hinnahme eines Restrisiko gekennzeichnet ist, zu einer vulnerablen Gesellschaft wandelt. Die vulnerable Gesellschaft müsse auf Schäden vorbereitet sein und in Krisen Widerstandskraft und Anpassungsflexibilität entfalten. Aus juristischer Perspektive führt dies dazu, dass eine Umgestaltung der heutigen Verfassung denkbar wird. Eine Umgestaltung erfordere laut Herr Prof. Kersten neue ökologische Grundrechte, ein neues ökologisches Staatsprinzip, eine ökologische Staatszielbestimmung und ein ökologiesensibles Staatsorganisationsrecht.
Auf den ersten Blick erscheinen ökologische Grundrechte revolutionär. Allerdings ist die Schaffung neuer Grundrechte aufgrund von Entwicklungen der Gesellschaft nicht neu – zu denken ist hier z.B. an das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, welches als Reaktion auf die Digitalisierung entwickelt wurde. Insofern erscheint eine Verankerung eines „Rechts auf ökologische Integrität“ im Grundgesetz möglich und begrüßenswert. Neben der Schaffung neuer Grundrechte wäre auch eine Erweiterung der Schranken bestehender Grundrechte denkbar, wonach einige Grundrechte ihre Schranken zusätzlich im ökologischen Wohl der Allgemeinheit finden könnten.
Weiterer Anknüpfungspunkt für eine Umgestaltung der Verfassung wäre – in Anlehnung an die ecuadorianische Verfassung – die Begründung von Rechten der Natur. Dies könnte z.B. dazu führen, dass bestimmte Grundrechte auch auf „ökologische Personen“ anwendbar sind. Auf den ersten Blick erscheint dieser Ansatz befremdlich und ungewohnt. Allerdings wird auch (ökonomischen) juristischen Personen nach Art. 19 III GG partieller Grundrechtsschutz gewährleistet, sodass eine Erweiterung des Grundrechtsschutzes auf die Natur bei entsprechender gesetzlicher Ausgestaltung plötzlich vorstellbar wird.
Weniger spektakulär, jedoch höchsteffektiv und realistischer als die Begründung von Rechten der Natur, wäre eine ökologische Erweiterung bestehender Staatsprinzipien. Hier käme eine Änderung des Art. 20 I GG in Betracht (z.B. „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer, sozialer und ökologischer Bundesstaat.“), wodurch der Klimaschutz elementarer Bestandteil unseres Staates würde. Staatsorganisationsrechtlich kämen zahlreiche Änderungen der Verfassung in Betracht. So ließe sich an ökologische Haushaltsdebatten, die Einführung eines Naturbeauftragten (analog zum Wehrbeauftragten), ein Widerspruchsrecht der Bundesumweltministerin (analog zum Widerspruchsrecht des Justiz-, Innen- oder Finanzministers) oder die Besetzung des Umweltausschusses mit Vertretern der Wissenschaft und Naturschutzvertretern denken.
Mit diesen Gedankenanstößen ging es nach dem Abschluss des Vortrags gemeinsam in Richtung des nahezu obligatorischen Get-Togethers, bei dem wir in gemütlicher Runde Snacks und Getränke zu uns nahmen. Wir danken Herrn Prof. Kersten für den spannenden und lehrreichen Vortrag und freuen uns auf weitere Vorträge im kommenden Semester!
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Freund Rüll & Partner
Graf von Westphalen